Du darfst nicht weglaufen!

… Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.

(Sunzi, um 500 v. Chr, »Die Kunst des Krieges«)

Dem alten chinesischer General und Militärstratege folgend, trat ich eine Reise in meine Vergangenheit an, um mich besser kennenzulernen. Ein Ereignis kam mir in den Sinn, das ich durchaus als ein Schlüsselerlebnis werten kann. Wie alt ich damals war, konnte ich nicht genau bestimmen, aber ich muss sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Aus irgendwelchen Gründen musste ich einen anderen Heimweg als den üblichen von der Schule wählen. Meine Erinnerung war mit Bildern versehen, ich sah mich an einem Haus vorbeigehen. Das Eingangstor stand auf und plötzlich kam ein Schäferhund auf mich zugelaufen. Ich erinnere mich, wie ich die Flucht vor dem Hund ergriff, wie ich stolperte und hinfiel, wie dieser Hund über mir lag und an mir schnüffelte. Ich muss geschrieen haben. Dann spürte ich, wie dieser große Hund von mir weggezogen wurde und hörte die Stimme einer Frau: »Du darfst nicht weglaufen!«

An diese Erinnerung war auch eine weitere Aussage verknüpft: »Du darfst keine Angst zeigen!« Diese beiden Aussagen habe ich gründlich untersucht, mich in die damit verbundene Situation hineingedacht: Ein Kind steht plötzlich einem weit überlegenen Gegner, einer starken Bedrohung, gegenüber. In einer solchen Situation werden Stresshormone, also biochemische Botenstoffe, freigesetzt. Sie sollen den Körper auf eine bevorstehende Flucht oder einen Kampf, als unmittelbare Reaktion auf eine Stresssituation, vorbereiten.

Der Botschaft dieser Stoffe folgend, hat also klein Sylvie richtig gehandelt, in dem sie die Flucht ergriff, denn ein Kampf mit einem Schäferhund wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Klein Sylvie bekam aber die Rückmeldung, trotzdem etwas falsch gemacht zu haben. Was hätte klein Sylvie also noch für Alternativen haben können? Stehen bleiben, keine Angst zeigen, dabei weinen und sich in die Hose machen, um diese Botenstoffe quasi auszuschwemmen. Denn irgendwo müssen die ja bleiben.

Die erwachsene Sylvia kommt allerdings zu einem anderen Ergebnis: Die Halterin des Hundes trug die volle Verantwortung. Nicht klein Sylvie hat falsch reagiert, sondern diese Frau. Sie hätte Sorge dafür tragen müssen, dass der Hund nicht entweicht. Auch ihre Reaktion, einem Kind ein falsches Verhalten in einer Situation aufzubürden, mit der es zum einen völlig überfordert war, zum anderen für das es keine Verantwortung trug, war falsch. Trotzdem schien mich dieses Ereignis weiter geprägt zu haben. Bis zu dem Moment, in dem ich mich damit, als Erwachsene, auseinander gesetzt habe. Die kleine Sylvie hatte damals eine Lösung für sich gefunden, indem sie in der Folgezeit einen großen Umweg in Kauf nahm, um nicht wieder falsch zu handeln und dafür getadelt zu werden. Die erwachsene Sylvia konnte nach diesen Überlegungen die kleine Sylvie in den Arm nehmen, sie trösten und ihr sagen, dass sie damals alles richtig gemacht hatte. Ein wichtiger Schritt, der in die richtige Richtung führte.



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